Echte Gefühle
Warum ein Bild am Bildschirm nie so wirkt wie ein echtes – und was meine Schwiegermutter damit zu tun hat
Ich habe meine Schwiegermutter gestalkt – über Tage hinweg, lange bevor ich ihr persönlich begegnet bin. Online, natürlich.
Man mag sich fragen, was ungewöhnlicher ist: dass ein halbwegs normaler Mensch die Onlinewelt einer 82-jähriger Engländerin durchwühlt – oder dass diese in einer Weise online präsent ist, dass es sich lohnt.
Und es lohnt sich, denn sie ist Malerin. Viele ihrer Werke sind online zu sehen. In eines – das Titelbild dieses Artikels habe ich mich sofort verliebt. Ich habe es heruntergeladen, als Bildschirmhintergrund eingerichtet und über Monate immer wieder angeschaut.
Ich dachte, ich würde es kennen, hätte seine Ausstrahlung längst erfasst. Ich lag falsch.
Inzwischen ist das Original mein. (Ich merke, wie sehr ich mich sperre bei »mein«, bei »Besitz« und »gehören« – doch das ist ein anderes Thema.) Es hängt im Schlafzimmer über dem Fußende des Betts, mit ihm beginnt und endet der Tag.
Und als sei das Gemälde erst jetzt wirklich geworden, hält es meinen Blick fester, länger, zieht ihn tiefer hinein. Warum erlebe ich das so? Ist das allgemeingültig? Und wenn ja, warum?
Original vs. Reproduktion – was ist dran?
Verheißungsvoll sind Titel und Teaser eines National Geographic Artikels von 2024: »Kunstdruck vs. Original: Warum unser Gehirn auf echte Gemälde mehr reagiert«1: Echte Kunstwerke anzuschauen, stimuliert das Gehirn bis zu zehnmal stärker als das Betrachten von Prints mit demselben Motiv.
Enttäuschend ist zum einen, dass die Studie meiner Meinung nach Schwächen hat. Zum anderen, dass Wissenschaftler den Grund der tieferen Erfahrung weniger im Kunstwerk sehen als im Setting: Licht, Rahmen und Umgebungsfaktoren stärken den Eindruck, den es hinterlässt. Gut so – schließlich werden Museen dafür bezahlt, Kunst bestmöglich darzustellen.
Es würde sich also durchaus lohnen, für van Goghs Sternennacht ins MoMA zu gehen (wenn man zufällig in New York ist), auch wenn zu Studentenzeiten in der WG hing.
Ich will, dass da mehr ist! Will, dass es einen belegbaren Unterschied macht, ob ein Bild physisch vor mir hängt oder als Druck – egal, ob im Museum oder zuhause. Ich will, dass digitale Kunst weniger Eindruck auf mich macht als ein Botticelli. Werde ich alt?
Botticelli und ich
Überhaupt: Botticelli. Bei einer Ausstellung habe ich zum ersten Mal einen Tipp ausprobiert: 1. die Ausstellung betreten, 2. zügig durchgehen und alle Werke scannen und 3. den Rest der Zeit vor den zwei oder drei Stücken verbringen, die mich ansprechen.
Diese Taktik hatte zur Folge, dass ich in zwei Gemälden versunken und für dieses2 noch einmal die vier Stunden hingefahren bin – um dann zwei Stunden nur davor zu verbringen.
Wie beim Betrachten eines Sternenhimmels habe ich mehr und mehr Details entdeckt, mir mehr und mehr Fragen gestellt, die Traurigkeit der beiden gespürt und den warmen Duft des sechshundert Jahre alten, wurmlöchrigen Holz gerochen, auf dem die Farbe lag. Nie werde ich das vergessen.
(K)Ein Fazit
Eigentlich bin ich mit meiner Frage nicht weitergekommen. Sicher, ein Druck oder Bildschirmhintergrund riecht nicht so gut wie ein Originalgemälde. Dafür kann ich beides ungestört, mit einem Kaffee in der Hand und jederzeit anschauen.
Muss ich esoterisch werden? Damit, dass Originale durch ihre Geschichte aufgeladen sind – durch Pinselstriche, Alter, Berührung? Dass sie eine Aura haben, die man nicht scannen kann?
Ich werde das weiter beobachten. Ganz oben auf der Liste meiner geplanten Reality-Checks: Rembrandts Nachtwache. Weil ich »kenne«, nicht besonders spannend finde und jeder, der es in Amsterdam gesehen hat, hingerissen scheint.
Also, wir sehen uns im Museum! Aber bitte nicht stören :-)
Eva
PS.: Was wäre dein Original- vs. Repro-Check?
Gefällt dir der Text? Dann lass ein Herz da (unterer Rand) - dann weiß ich es und der Text zieht Kreise :-)
Ich mag Deine neuen Texte, liebe Eva!
Und ich mag Deine Sicht der Dinge. Danke dafür!