Ohne Wort ‒ über das plötzliche Gefühl von Heimat
Wie kommt es, dass es kein Wort für ein Gefühl gibt, das jeder kennt?
Wie kommt es, dass es kein Wort für ein Gefühl gibt, das jeder kennt? Für das Gefühl, an einen Ort zu kommen und zu wissen: Hier bin ich richtig. Hier will ich sein. Hier kommt meine Seele zur Ruhe.
Am Meer haben viele eine Ahnung davon. Forscher vermuten: weil wir aus dem Meer kommen. In der Toskana spüren es andere. Forscher meinen: weil sie uns an die Savannen Afrikas erinnert, durch die unsere Ahnen streiften.
Aber ich meine es kleiner, konkreter ‒ keine Landschaft, sondern einen Ort, ein Haus. Das Ankommen mündet in ein Staunen, dem ein Ausatmen folgt. Dann, beim Einatmen spürt man es: das Heimatgefühl an einem Ort, an dem man noch nie war. Vertrautheit, wo keine sein kann ‒ Entdecken und Erkennen zugleich.
Einen Namen dafür habe ich bisher in keiner Sprache gefunden. Am nächsten kommt ihm wohl das walisische Wort hiraeth. Es beschreibt das Gefühl, an einen Ort zu gehören, obwohl man ihn gerade erst kennenlernt. Und es hat eine schöne Zusatzbedeutung: die Ahnung, dass dieser Ort einen Teil von einem selbst kennt.
Im Altgriechischen (und hier wage ich mich auf dünnes Eis, denn unter denen, die diesen Text lesen werden, ist eine Altgriechisch-Lehrerin) gibt es das Wort nostos. Neben einer tiefen, fast mystischen Sehnsucht kann es auch verstanden werden als ein Heimkehren, selbst wenn man physisch nie zuvor an diesem Ort war.
Ich habe die vergangenen Tage an einem solchen Ort verbracht: ein Haus im Süden Englands, erbaut 1786 in einem Dörfchen an einem kleinen Flusslauf. Die Steinplatten in der Küche sind so alt wie das Haus, es hat einen Kamin, alte Möbel, die Haustür bleibt unverschlossen. Und natürlich hat es einen Garten, der gerade in voller Blüte steht.
Immer wieder musste ich innehalten, schauen und staunen. Woher kommt dieses stimmige Gefühl, was löst es aus? Dass in dem Haus seit über 50 Jahren eine der liebenswertesten Frauen wohnt, die ich je kennengelernt habe und die zudem noch meine Schwiegermutter ist, trägt mit Sicherheit zu diesem Empfinden bei, erklärt es aber nicht annähernd.
Was ist es, das unsere Seele so anspricht? Die Umweltpsychologie nennt es »Ortsbindung« (place attachment), wenn Menschen eine emotionale Bindung zu bestimmten Orten entwickeln. Das klingt zwar zumindest im Englischen ein bisschen schön, vernachlässigt aber den Umstand, dass ein solches Gefühl von Anfang an da sein kann. Immerhin liefert sie einen Erklärungsansatz: der Ort ‒ sein Licht, seine Gerüche, Geräusche etc. ‒ könnte genau die Bedürfnisse ansprechen, die der oder die ihm Verfallene in sich trägt.
Was ich mich frage: Könnte man eine solche Spontanzuneigung auch zu hässlichen Orten empfinden? Oder zu Großstädten?
Ein gutes Wort dafür fehlt. ChatGPT (wir sollen ja offen sein für neue Technologien) schlägt vor, dass einem der »Seelenort« »fremdvertraut« ist, dass man »ortsverliebt« ist. Nun ja.
Vielleicht ist all das auch egal. Hauptsache, wir alle finden einen solchen Ort ‒ und können dort so viel Zeit verbringen, wie wir möchten.
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